Gesellschaft

RT-Exklusiv: Darum kämpfen russische Freiwillige an der Front

Sie tragen Abzeichen am Ärmel mit der Aufschrift "Organisierte orthodoxe Gruppe" und dem Bild einer Schaufel und eines Maschinengewehrs. Die Männer einer Kosakeneinheit von der fernen Insel Sachalin wissen genau, warum sie an der Front sind. RT hat exklusiv mit den Freiwilligen, die im Donbass kämpfen, gesprochen.
RT-Exklusiv: Darum kämpfen russische Freiwillige an der FrontQuelle: RT © RT

Von Philipp Prokudin

"Wie lautet Yoo Mei Hos richtiger Name?", frage ich Musyka.

Musyka ist Funker und hat Funkkomponenten auf seinen Helm gemalt. Er ist auf dem Weg, um die Tapik-Leitung zu reparieren. "Tapik" ist ein altes, sogar antikes, aber zuverlässiges Feldtelefon. Ein Reservekommunikationsmittel für den Fall, dass die elektronische Kampfführung des Feindes die Funksender stört.

"Ewgeni … Nikolajewitsch?", sagt er unsicher und fährt fester fort: "Alle nennen ihn Yoo Mei Ho, manchmal auch nur Ho. Er ist unser Marschoffizier."

"Und wer ist Ninja?"

"Ninja ist der Geldbeutel-Atamane", antwortet Musyka ohne eine Spur von Ironie und verdreht die Enden des Drahtes. – Ein Geldbeutelatamane ist derjenige, der für die Schatzkammer zuständig ist. Ninja ist sehr sparsam, er ist am richtigen Platz.

Musyka, Yu Mei Ho und Ninja dienen alle in einer Freiwilligeneinheit der Sachalin-Kosaken, die im Donbass kämpfen.

Der Geschmack der kleinen Heimat

Ho hat seinen Spitznamen von einer Art japanischer Massage. In Friedenszeiten war er Masseur, davor war er Grenzschutzbeamter, noch früher kämpfte er im ersten Tschetschenienkrieg.

Aus Musyka (russisch für Musik) wurde Musyka, weil er morgens beim Training immer die Hymne spielte und dabei mit Lautsprechern und einem Verstärker herumhantierte. Ninja ist eben ein Ninja – wendig, flexibel, aktiv und umtriebig.

Ninja hat vier Kinder und erwartet jetzt noch das fünfte. Zu Hause, auf Sachalin, steht seine Frau kurz vor der Geburt. Sie wollten den Vater von vielen Kindern nicht in die Armee aufnehmen.

"Sie sagten mir: 'Mensch, sei nicht dumm, bleib zu Hause.' Hä? Jetzt bin ich trotzdem hier, das hier ist auch mein Zuhause", sagt er.

Kaum kehrt Musyka von der Linie zum Unterstand zurück und fängt an zu prüfen, ob der "Tapik" funktioniert, werden Eintopf und Brot auf den Tisch gestellt.

Neben den üblichen Armeespezialitäten wird einheimischer Speck aufgeschnitten und eine Spezialität der "kleinen Heimat", "koreanische Marmelade" – ein Glas mit würziger Kochudyang-Pfefferpaste – herausgeholt. Das vertraute Essen wird mit Freude und Nostalgie in Erinnerung gerufen.

Viele Männer in der Einheit tragen Bärte – sie sind ja schließlich Kosaken. Vor einiger Zeit gab es eine ernsthafte Diskussion darüber, ob es zulässig sei, im Militärdienst einen Bart zu tragen. Den Sachalin-Kosaken erlaubte man es ausnahmsweise.

Sonst herrscht strengste Disziplin und Subordination. Im Kampfeinsatz ist dies die Voraussetzung zum Überleben. Dabei sind die Männer im zivilen Leben oft Freunde, gute Kameraden und einfach Nachbarn. Das lässt sie nicht nachlässig werden und hindert sie vor allem nicht daran, Befehle zu befolgen. Der Atamane Ho ist überzeugt, dass er zu jedem und mit äußerster Strenge fordernd sein muss.

"Solange wir hier sind, müssen wir kämpfen. Wenn wir nach Hause kommen, wird jeder zur Rechenschaft gezogen werden. Ich werde als Marsch-Atamane bewertet werden, andere als Generale oder als Gefreite. Jeder wird nach seiner Funktion Rede und Antwort zu halten haben",

lächelt Yoo Mei Ho und wird plötzlich wieder ernst.

"Oh! Das ist ja wie ein Picknick!" – Tuman, der stellvertretende Kommandeur der Einheit, betritt den Unterstand.

Tuman sieht genau so aus, wie die westlichen Klischees die Russen zeichnen: groß, mit schwarzem Bart, in einem Kuban-Mantel, mit gelbem Oberteil – der Farbe der Ussurijsker Kosakentruppen – und mit einer Kutusow-Binde über einem Auge. In dieser Aufmachung könnte er glatt die Rolle eines "Crazy Russian" spielen.

Eine Wiederholung des Ersten Weltkriegs

Die Rede kommt auf das Kampftraining – das für Freiwillige und das für die frisch Mobilisierten. Tuman sagt dazu:

"Diejenigen, die sich beschweren, dass sie nicht sorgfältig genug ausgebildet worden sind, flunkern. Wenn man selbst bei der Ausbildung gemauschelt hat, wenn man vom Ausbilder nicht das Maximum abverlangt hat, wer ist dann schuld? Ein Lehrer spürt die innere Einstellung seines Schülers. Einem motivierten Soldaten wird der Ausbilder immer alles Nötige beibringen."

Neben der Verantwortung für sich selbst gibt es nach Überzeugung des stellvertretenden Feldwebels ein weiteres Gesetz: Man darf nicht lügen.

"Man darf weder sich noch andere belügen – niemanden, nicht die Kämpfer, nicht die Vorgesetzten. Schafft es eine Lüge nach oben, kommen von dort falsche Entscheidungen zurück. Entscheidungen, die Leben kosten." 

Nebel, Yoo Mei Ho, Ninja und der Rest der Kosaken kamen an der Front an, als die Kampfhandlungen bereits festgefahren waren und in einen Stellungskrieg wie im Ersten Weltkrieg mündeten. Schützengräben, verdeckte Übergänge, über denen das permanente Artilleriefeuer niemals aufhört. Das Zischen und Pfeifen und Zischen der ankommenden Geschosse wird mal leiser, mal lauter, und gelegentlich decken einen – nach einem Treffer – Fontänen aus schwerer und nasser Schwarzerde zu.

Wie damals hat neue Technik die Taktik verändert: Vor 100 Jahren war es die Luftfahrt, heute sind es Drohnen. Ihr Summen über den Köpfen verheißt nichts Gutes. So kündigen sich ankommende ballistische Raketen des Feindes an. Oder es ist abermals ein ukrainischer Sabotage- und Aufklärungstrupp im nahen Wald, der mithilfe einer Drohne den Weg vor ihm auskundschaftet.

Die Kosakeneinheit verfügt selbst über eine Flugdrohne. Sie steigt regelmäßig in die Luft auf, um die Umgebung zu überwachen. Die Drohnen-Crew, zwei Männer, geht weit von den Stellungen weg und startet den "Vogel". Dann bewegt der Bediener die Joysticks, um die Maschine zu den feindlichen Schützengräben zu steuern.

Es sieht aus wie ein Kinderspiel. Auf dem Bildschirm des Bedienfelds sieht alles lustig und nicht ernst aus. Die kleinen Figuren kriechen an der Baumreihe entlang, die Erdsäulen wachsen dicht an dicht und die Figuren verstreuen sich wie in einem Slapstick, um sich vor dem Tod zu verstecken.

Großvater hat den Krieg nicht zu Ende geführt – ich werde ihn zu Ende führen

Obwohl sie weit weg von ihrer Heimat Sachalin kämpfen, kämpfen die Kosaken auf ihrem Land:

"Für uns waren diese Gebiete nie die Ukraine, sie sind Noworossija."

Viele Familien Sachalins haben ihre Wurzeln genau in diesen Gebieten.

Es gibt aber auch solche, deren Familien aus der Westukraine stammen. So wie der Kämpfer, dessen Codename Bodryj lautet. Sein Großvater teilte die Gesinnung Banderas überhaupt nicht und schloss sich nach der Besetzung dieser Gebiete durch die Deutschen den Roten Partisanen an.

"Die Nazis wurden im westlichen Teil des Landes mit Brot und Salz begrüßt, aber mein Großvater ging in die Wälder. Dann, 1943, schloss er sich unserer Armee an und fing bis 1947 die Banderiten, die sich nun selbst in den Wäldern zerstreuten. Und jetzt habe ich das gleiche Schicksal. Mein Großvater hat den Krieg zu Ende geführt, ich werde es tun",

philosophiert Bodryj. Danach lächelt er breit.

Über ihre Motivation sprechen die Sachaliner leise.

"Wie bekämpft man die Angst? Man macht seine Arbeit, vertieft sich ganz in sie", erklärt Kosakenoffizier Tuman. "Wenn du zur Arbeit kommst, denkst du nur an die Arbeit. So ist es auch hier. Wenn man einen Kampfauftrag erhält, denkt man nur daran, wie man die Aufgabe erfüllen kann. Hier ist es wichtig, dass jeder Zugführer, jeder Gruppenführer seine Untergebenen mitreißen kann. Ich bringe nicht alle vor einem Kampf zusammen, um die Stimmung zu verbessern. Man muss ständig mit den Leuten reden, regelmäßig, auf allen Ebenen. Die Armee sind die Menschen.

Um sich vor einem Kampf in die richtige Stimmung zu bringen, ist es besser zu beten", so Tuman.

"Wenn man wirklich aufrichtig betet, hilft das. Und natürlich sollte ein Soldat niemals entmutigt sein – das ist eine Sünde. Egal wie schwer es für dich ist, für den Feind ist es noch schwerer. In der Luft hören wir Auseinandersetzungen in den feindlichen Stellungen. Es kommt sogar zu Schusswechseln zwischen ihnen. Die polnischen Söldner lassen die Ukrainer nicht zurückweichen. Sie stehen wie eine Barrikade hinter ihrem Rücken. Was sieht die Moral dort wohl aus?"

Die Kosaken sind sich sicher, dass sie hier nicht nur für den Donbass, sondern für ganz Russland kämpfen.

"Dies ist unser Kampf ums Überleben. Wenn etwas passiert, das als Niederlage Russlands interpretiert werden kann, wird es schlimmer sein als 1991. Die 1990er Jahre dürfen sich nicht wiederholen. Ich habe sie durchlebt und möchte nicht, dass meine Familie und meine Kinder sie auch durchleben müssen",

sagt ein Kämpfer mit dem Rufnamen Geologe zum Abschluss.

Übersetzung aus dem Russischen 

Mehr zum Thema – Patriotismus, Mitleid und Hass: Die Geschichte eines russischen Freiwilligen

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Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.